Liebe Pfullingerinnen und Pfullinger,
in diesen Tagen und Wochen erinnern wir uns an „30 Jahre Einheit in Deutschland“. Jede und jeder von uns hat hier mehr oder weniger seine ganz eigenen, persönlichen Erlebnisse aus diesen drei Jahrzehnten.
Bei den älteren Generationen reichen die Erinnerungen natürlich noch viel weiter zurück. Oftmals die Kriegs- und Nachkriegsjahre erlebend, ist vielen Menschen besonders auch die belastende Zeit der Trennung und Teilung unseres Landes bis heute sehr präsent. Viele der jüngeren Generationen sind „Kinder der Einheit“ im wahrsten Sinne des Wortes: sie sind im vereinten Deutschland aufgewachsen und kennen die Zeiten vor der friedlichen Revolution und dem „Mauerfall“ im November 1989 aus den Geschichtsbüchern und durch Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern.
Der Grundstein für unsere Einheit wurde mit den Geschehnissen im Herbst 1989 und hier konkret insbesondere am Abend des 9. November 1989 durch den „Fall der Mauer“ gelegt.
Nachfolgend möchte ich von meinen ganz persönlichen Erinnerungen berichten. Zunächst war da unsere gemeinsame familiäre Reise nach Berlin.
Vom 28.10. – 02.11.1989 war unsere vierköpfige Familie zu Besuch bei Verwandten in Berlin-Wilmersdorf (Westteil der Stadt), verbunden u.a. mit einer sehr informativen 1-tägigen Stadtführung in Berlin-Mitte (Ostteil der Stadt) durch einen Fachkollegen (Sprengmeister) aus Berlin, der damals die Abteilung Sprengwesen in der DDR in Form eines Kombinates federführend leitete. Mehr als beklemmend in Erinnerung geblieben ist mir bis heute der Grenzübertritt morgens am Bahnhof Friedrichstraße in den Ostteil der Stadt und abends dann die „Ausreise“ über den sogenannten „Tränenpalast“ zurück nach Berlin-West.
Am Abend des 1. November 1989 blickte ich zusammen mit meinen beiden Cousins und meinem Bruder beispielsweise am Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg über die Mauer in Richtung Berlin-Mitte und Friedrichshain. Es war eine ganz eigenartige Stimmung in der geteilten Stadt – wir wussten natürlich um die Demonstrationen zur Einleitung von Reformbewegungen in der DDR und auch wir hofften auf demokratische Veränderungsprozesse. Zugleich waren wir uns trotzdem bewusst, dass die Mauer wohl leider noch lange fortbestehen würde. Im Gespräch auf dem Holzpodest an der Grenze stehend, überlegten wir uns damals, wann denn die Mauer endlich eines Tages fallen könnte. Unsere Einschätzungen lagen damals beim Jahr 2000X. Niemand von uns hätte gedacht, dass sich die ganze Geschichte friedlich schon wenige Tage später so zum Guten wenden könnte.
Wieder zurück in Pfullingen, hatten wir am Abend des 9. November 1989 ab 20.00 Uhr eine Sitzung des Verantwortlichenrates (VR) unseres Evangelischen Jugend- und Familienwerks CVJM Pfullingen. Dort wurde beispielsweise von unserer Jugendreferentin über den Besuch einer Pfullinger Jugendgruppe Anfang November 1989 in unserer Patenkirchengemeinde in Jena berichtet. Diese Besuchergruppe hatte sich damals in Jena gemeinsam mit unseren couragierten Gastgebern an verschiedenen Kundgebungen beteiligt.
Wir vom Verantwortlichenrat des CVJM haben damals, wenn ich mich recht erinnere, kurzfristig sogar ein kleines Radio für unsere Sitzung organisiert, damit wir immer die neuesten abendlichen Meldungen parallel zu unserer Tagesordnung mitverfolgen konnten. Und wir waren alle vom Mut der Bevölkerung der DDR in den Kirchen und auf den Straßen in diesen Tagen und Wochen tief beeindruckt!
Die Ereignisse im Herbst 1989 haben bis heute mein Leben nachhaltig verändert und geprägt. Und das sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht.
Beispielsweise habe ich beruflich neben meinem BWL-Studium mit Schwerpunkt Personal in Stuttgart auch sehr umfangreiche Aus- und Fortbildungen im Bereich der gewerblichen Sprengtechnik absolviert.
Meine Grundausbildung zum Sprengberechtigten (Sprengmeister) absolvierte ich in Baden-Württemberg, wesentliche Fortbildungen etwa im Bereich Abbruchsprengtechnik dann aber in Sachsen an der Dresdner Sprengschule mit der Prüfung durch das Sächsische Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr. Eine Möglichkeit, an die vor 1989 niemand geglaubt hat, konnten sich doch die Sprengfachleute aus der Bundesrepublik und der DDR bis dahin immer nur auf Internationalen Tagungen im Ausland wie etwa in Österreich begegnen und fachlich austauschen.
Bereits im Dezember 1989 haben sich die beiden Sprengverbände, der „Sprengverband der Bundesrepublik Deutschland“ und die „Wissenschaftliche Sektion Sprengwesen der Kammer der Technik der DDR“ zu ersten Gesprächen in Berlin getroffen, was im November 1990 zur Vereinigung beider Verbände im Deutschen Sprengverband geführt hat. Damit war einer der ersten gesamtdeutschen Berufsfachverbände im wiedervereinten Deutschland entstanden. Da mein vor zwei Jahren verstorbener Vater Konrad Fink neben seiner beruflichen Tätigkeit als Sprengunternehmer und Sprengsachverständiger von 1981 bis 1999 im Sprengverband ehrenamtlich als Vorstandsmitglied sowie in der sprengtechnischen Aus- und Fortbildung sehr aktiv war und dort im Deutschen Sprengverband etwa über viele Jahre hinweg den Fachausschuss für „Abbruchsprengtechnik und Sonderverfahren“ geleitet hat, sind in dieser langen Zeit sehr viele berufliche und private Kontakte und Verbindungen entstanden, welche sich vielfach bis heute freundschaftlich auf unsere ganze Familie übertragen haben.
Seit meiner Schul- und Studienzeit leite ich Kultur- und Stadtrundgänge in Pfullingen und anderen Regionen in Baden-Württemberg, seit 1990 aber auch in Berlin, Thüringen und Sachsen für unsere Pfullinger vhs und andere interessierte Vereine und Gruppierungen.
Schon im Februar 1990 konnte damals die Jugendgruppe aus unserer besagten Patenkirchengemeinde Jena zu einem ersten Gegenbesuch nach Pfullingen kommen – sehr gerne habe ich den Jugendlichen und ihren Betreuern unsere Pfullinger Besonderheiten gezeigt. Die ganze Begegnung und auch der gemeinsame Empfang auf dem Pfullinger Rathaus bei Bürgermeister Heß waren mit sehr großen Emotionen verbunden. Diese kirchliche Partnerschaft zwischen Jena und Pfullingen besteht übrigens bis heute.
Ebenfalls im Frühjahr 1990 durfte ich die beiden Vertreter der Schulleitung des Lichtensteiner Gymnasiums Prof. Dr. Max Schneider bei ihrem ersten Besuch in Pfullingen bei einem besonderen Stadtrundgang begleiten – für mich eine tolle Begegnung und zugleich bleibende Erinnerung!
Am 25. Januar 1991 führte ich dann erstmals eine kleinere Gästegruppe aus Lichtenstein/Sachsen durch Pfullingen, im Frühjahr und im Sommer 1991 waren dann weitere Gruppen aus Lichtenstein bei uns zu Gast, zahlreiche Begegnungen folgten bis heute, vor allem auch zwischen den beiden Freundeskreisen des Lichtensteiner Gymnasiums Prof. Dr. Max Schneider und des Pfullinger Friedrich-Schiller-Gymnasiums sowohl in Lichtenstein/Sachsen als auch bei uns in Pfullingen.
Alle Begegnungen – beruflich und privat – waren und sind für mich – immer wieder sehr spannend und beglückend – es sind dadurch auch viele Freundschaften entstanden.
Zurückblickend auf die Ereignisse des Jahres 1989 empfinde ich persönlich zunächst eine sehr große Dankbarkeit, dass es ein Zusammenkommen des geteilten Deutschlands im Rahmen einer friedlichen Revolution gewesen ist. Wenn man die Geschichte der Trennung seit dem Mauerbau teilweise hautnah miterlebt hat – ich persönlich war 1978 erstmals in Berlin und 1982 erstmals in Leipzig – kann man diesen „Glücksfall der Geschichte“ nicht hoch genug einschätzen! Und vieles hat sich in den vergangenen über 30 Jahren nach und nach entwickelt, ist gewachsen und steht vielfach gestärkt da – nicht zuletzt aufgrund unserer in weiten Teilen gemeinsamen Geschichte. Aber es bedarf eines stetigen Einsatzes und vor allem auch der Erinnerung! Trotz mancher Schwierigkeiten oder Ungleichheiten im Kleinen und Großen war und ist die Wiedervereinigung für mich persönlich und für viele von uns eine riesengroße Bereicherung! Die Bedeutung der Städtepartnerschaft zwischen Lichtenstein/Sachsen und Pfullingen kann deshalb nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Ausgehend von den ersten Begegnungen der beiden Schulen und unserer Bürgermeister mit ihren Stadtverwaltungen ist eine Freundschaft und verlässliche Partnerschaft entstanden, die weder ich noch viele Pfullinger missen möchten. Aus diesem Grund haben sich sowohl in Lichtenstein als auch in Pfullingen in den vergangenen Jahrzehnten bis heute sehr viele Menschen aller Generationen einzeln sowie in Vereinen und Gruppierungen für unsere Städtepartnerschaft engagiert. Denn eine Partnerschaft lebt vom regen, gemeinsamen Austausch bei den privaten und offiziellen Begegnungen der unterschiedlichsten Art in Sachsen und in Pfullingen und kann nur so weiter zusammenwachsen und gefestigt werden! Das alles empfinde ich persönlich wie gesagt als sehr bereichernd. Und gleichzeitig lernen wir ja auch von einander, haben Ideen, die in gemeinsame Projekte münden. In diesem Sinne gilt es, unsere Städtefreundschaft auch weiterhin zu stärken. Das muss uns allen ein wichtiges gemeinsames Anliegen sein. Das setzt nicht nur das Engagement unserer „Zeitzeugengeneration“ voraus, die wir die friedliche Revolution 1989 und das Zusammenwachsen beispielhaft miterlebt haben, sondern auch die junge Generation von heute muss sich hier nach Kräften einbringen. Daher müssen wir Älteren vor allem die jüngeren Generationen immer wieder an die Ereignisse von 1989 erinnern! Sowohl Lichtenstein als auch Pfullingen bieten hier gute Grundlagen, um das gemeinsam Begonnene auf allen Ebenen fortzusetzen. Unvergesslich bleibt für mich persönlich deshalb auch die Teilnahme am Festakt zum „25. Jahrestag friedliche Revolution“ am 9. November 2014 in der vollbesetzten St. Laurentiuskirche unserer Partnerstadt Lichtenstein/Sachsen.
Die Begegnung mit Freunden – genau das macht eine gute und verlässliche Städtepartnerschaft aus – eine Freundschaft, die trägt. Ein wirklich entscheidender „Mehrwert“, den uns in Lichtenstein/Sachsen und in Pfullingen niemand nehmen kann!
Bleiben Sie alle behütet und gesund!
Ihr
Martin Fink
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